Interview der Schülerzeitung SEGS mit dem Drogenabhängigen Stefan F.
Die erste Konfrontation mit harten Drogen findet oftmals bereits auf dem Schulhof statt. Umso wichtiger ist es, eine aktive Prävention und Aufklärung zum Thema – ohne erhobenen Zeigefinger – für Jugendliche zu unterstützen. Die Schülerzeitung SEGS der Ernst-Göbel-Schule aus Höchst im Odenwald hat Stefan F. zu seiner Drogenabhängigkeit interviewt. Mit freundlicher Genehmigung der Schülerredaktion veröffentlichen wir das Interview hier in leicht gekürzter und redigierter Fassung.
Stefan F. begann 1976, mit 16 Jahren, Drogen zu nehmen. Beginnend mit Alkohol und Haschisch über Speed und Kokain landete er schließlich auch bei Heroin. Mehrere Entzugsversuche scheiterten an Rückfällen in die Sucht. Seit 2007 bezeichnet er seinen Zustand inzwischen als stabil.
SEGS: In welchem Alter haben Sie angefangen Drogen zu nehmen?
Stefan F.: Ich nehme jetzt mal den Alkohol dazu. Da war ich 16, 17, als ich ein bedenkliches Trinkverhalten entwickelte. Mit 18 fing ich an zu kiffen und tat dies bereits ein paar Monate später täglich. Dafür hab ich dann nicht mehr so oft gesoffen. Mit 24 nahm ich dann Speed und Koka. Zwei Jahre später kam ich dann schließlich zum Heroin. Mit 27 Jahren war ich abhängig vom H, schnupfte es zunächst und injizierte es dann ein halbes Jahr später.
Wie ist es zu wissen, dass man abhängig ist?
Dazu muss ich zunächst mal den Begriff „Abhängigkeit“ in Bezug auf Drogenkonsum erklären. Da gibt’s die psychische, also seelische Abhängigkeit und es gibt die physische, körperliche Abhängigkeit. Beim Kiffen, bei Speed und Koka, bei XTC und LSD ist es ja so, dass man, wenn man wieder abgetörnt ist, gerne wieder was einfahren will. Selbst wenn nach wochenlangem Konsum dann auf einmal nichts da ist, findet man sich damit ab – heute gibt’s nix, morgen ist auch noch ein Tag. Man hat höchstens schlechte Laune. Das funktioniert so nicht beim Heroin. Schon nach ein paar Wochen merkte ich, was körperliche Abhängig bedeutet.
»Das Dope will einen immer ganz besitzen.«
Wie haben die Drogen Ihren Alltag beeinflusst?
In den Zeiten, in denen ich voll drauf war, muss ich sagen, da waren die Drogen der Alltag. Alles drehte sich um Beschaffung und Konsum. Oft mehrmals am Tag oder gar in der Nacht. Man konnte es sich nicht leisten, morgens mal ohne was dazustehen. Alles andere wie Hobbys, Freunde, Ernährung und sogar die eigene Gesundheit wird zweitrangig. In Zeiten gemäßigten Konsums versuchte ich alles unter einen Hut zu bringen, was letztendlich auch immer wieder fehlschlug. Das Dope will einen immer ganz besitzen.
Was denken Sie, warum Sie süchtig wurden?
Eine gute Frage, die ich mir schon tausendmal gestellt habe. Ich kam im Laufe der Zeit zu verschiedenen Ergebnissen. Letztendlich bin ich heute der Auffassung, dass es ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren war.
- Da wären zunächst meine Gene; es hat sich herausgestellt, Kinder von Eltern mit Suchtproblematik sind statistisch gesehen selbst gefährdet. Auch Kinder von Eltern, die durch ein Verlusterlebnis in der Kindheit geprägt sind. Beides trifft auf meinen Vater zu.
- Auch meine Kindheit und mit welchen Leitbildern ich aufwuchs. An meinem Vater sah ich, wie widerwillig er morgens zur Arbeit ging. Wenn er nicht schon angetrunken heimkam, dann hat er spätestens jetzt zuhause sein erstes Bier getrunken. Die bedrückende Zeit auf der Arbeit „berechtigte“ also seinen Alkohol-/Drogenkonsum.
- Meine Neugier und meine Risikobereitschaft trugen dann in dem Milieu, in dem ich verkehrte, zu einigen leichtsinnigen Handlungen bei, die sich als folgenschwer erwiesen. Auch wollte ich ja nie glauben, dass man angeblich nicht mehr aufhören kann. Ich dachte, Sucht wäre eine Charakterschwäche, die ich nicht hätte.
- Es gehörte aber auch immer schon zu meinen Charaktereigenschaften, dass ich sehr introvertiert bin und nur schwer auf andere Menschen zugehen kann. Da sind Drogen, besonders Heroin, scheinbar ein prima Hilfsmittel.
- Nicht zu unterschätzen ist auch das „Anders-sein-Wollen“, sich für manche interessanter zu machen, als ich mich fühlte. Dies rührte von meinen massiven Minderwertigkeitskomplexen her.
- Das Erlebnis, in Gesellschaft Drogen zu konsumieren, blieb mir seit den Anfängen mit Haschisch positiv im Gedächtnis. So beeinflusste mich das später bei den Anfängen mit Heroin unterbewusst.
Haben Sie selbst gemerkt, dass Sie drogensüchtig sind?
Ich wusste schon als Kind, dass mit mir einiges nicht stimmt. Als wir in der 5. Klasse eine Broschüre über Drogen bekamen und darüber sprachen, hatte ich einen seltsamen Moment der Erkenntnis. Über Konsumenten stand da so etwas wie „schwache Menschen, die im Leben gescheitert sind“. Darin erkannte ich mich anscheinend, obwohl ich erst zehn Jahre alt war.
»Doch einmal kommt dann immer der Tag, wo du weißt: Wenn du jetzt nochmal was nimmst, bist du körperlich abhängig. Einige Male kann man dem widerstehen, doch dann nimmt man es trotzdem.«
Als ich zum ersten Mal Haschisch konsumierte, habe ich mich überhaupt nicht gefragt, ob ich das machen soll oder lieber nicht. Genauso bei den anderen Drogen. Nur bei Heroin zögerte ich ein wenig.
Doch einmal kommt dann immer der Tag, wo du weißt: Wenn du jetzt nochmal was nimmst, bist du körperlich abhängig. Einige Male kann man dem widerstehen, doch dann nimmt man es trotzdem. Dass ich mir trotzdem meine Sucht schönzureden versuchte, liegt in der Natur der Sache.
Wie hat sich Ihr Umfeld zu Ihrer Abhängigkeit geäußert?
Nun, das war von Person zu Person sehr verschieden. Einige waren wirklich entsetzt, dass ich Heroin nahm. Zum Teil boten sie mir ihre Hilfe an, falls ich da nicht mehr klar kam oder aufhören wollte. Andere brachen den Kontakt ab.
Meine Eltern, in Bezug auf Drogen bereits durch meine Schwester leidgeprüft, unterstützen mich noch eine Zeit lang, bis die Enttäuschungen zu viel wurden.
Was hat Sie dazu bewegt, mit dem Drogenkonsum aufzuhören?
Die Entscheidung, mit Drogen aufzuhören, ist etwas, das mir ständig gegenwärtig war. Ab einem gewissen Punkt merkte ich, wenn ich so weiter mache, wird Folgendes passieren: Entweder ich lande im Knast oder auf dem Friedhof. Und zwar nicht in zehn oder zwanzig Jahren, sondern bereits nächste Woche oder schon übermorgen.
»Oft reicht nämlich schon ein geringer Anlass aus, um rückfällig zu werden und das große Ziel aus den Augen zu verlieren.«
Wieso haben Sie sich für einen Entzug entschieden?
Das war gar nicht so schwer. Allein in Heppenheim habe ich zwölf Mal entzogen. Es war immer wieder ein neuer Versuch, aus der Abhängigkeit auszubrechen. Die Lebensumstände waren oft zu schwierig für mich, um die gewaltige Aufgabe zu bewältigen. Oft reicht nämlich schon ein geringer Anlass aus, um rückfällig zu werden und das große Ziel aus den Augen zu verlieren.
Wie läuft so ein Entzug ab?
Das ist ganz schwer vorzustellen. Zuerst merkt man nach zwölf Stunden eine gewisse Unruhe. Das steigert sich langsam und wird zu einer Rast- und Ruhelosigkeit. Im Geiste geht man alle möglichen Szenarien durch, wie man an etwas Dope kommen kann. Andere Dinge würden sowieso nicht helfen.
Dann bekommt man eine Art „Restless Legs“-Syndrom: Man kann die Beine nicht stillhalten. Man kommt ins Schwitzen und hat das Gefühl, Tausende von Ameisen krabbeln im Bauchraum herum. Jetzt sind ungefähr 24 Stunden vergangen. Schon das kommt einem ewig vor.
Es kommen nun heftiges Frieren und Schweißausbrüche dazu. Ab diesem Zeitpunkt bist du nur noch bedingt fähig, aus dem Haus zu gehen und irgendwas zu erledigen. Es folgen nun zwei Tage, da kannst du gar nichts mehr machen. Erbrechen und Durchfall wechseln sich ab.
Wenn dann nach drei Tagen alles raus ist, geht es ganz langsam wieder bergauf. Am fünften Tag kommen die Lebensgeister zurück und man kann wieder unter Menschen und etwas erledigen. Nach zehn Tagen ist man oberflächlich wiederhergestellt.
Bis man wieder so ist, wie vor der Abhängigkeit, kann ein halbes Jahr vergehen.
»Wichtig ist bei einem Rückfall, dass man sich sofort Hilfe holt und nicht am nächsten Tag einfach weitermacht.«
Sind Sie wieder rückfällig geworden?
Allerdings! Und zwar nicht nur einmal. In der vorherigen Frage muss noch ergänzt werden, dass der Entzug immer mit psychisch äußert belastenden Gefühls- und Gemütszuständen einhergeht. Es werden vom Gehirn Signale zur Ausschüttung von Stresshormonen freigesetzt. Man kann tagelang nicht schlafen.
Hinzu kommt, dass man im Kopf wieder klar wird. Sofort fällt einem der ganze Mist ein, den man in der letzten Zeit gemacht hat. Deshalb brechen viele eine Entgiftung ab, sobald das Schlimmste überstanden ist.
Wenn man es trotzdem schafft, kann noch Wochen später in Anbetracht der schlimmen Vergangenheit und schwierigen Zukunft ein Zustand der Hoffnungslosigkeit eintreten. Das ist bei mir auch oft ein Rückfallgrund gewesen.
Wichtig ist bei einem Rückfall, dass man sich sofort Hilfe holt und nicht am nächsten Tag einfach weitermacht.
Wie geht es Ihnen heute? Wie stehen Sie heutzutage zu Ihrer Drogenvergangenheit?
Seelisch geht es mir seit vier Jahren ausgesprochen gut. Ich habe zur mir gefunden und kann mich so akzeptieren, wie ich bin. Das war wichtig, um Ziele zu finden, für die es sich lohnt drogenfrei zu leben. Ich gehe auch seit Jahren in eine Selbsthilfegruppe. Dort finde ich Menschen, die meine Situation und Probleme genau nachempfinden können.
Mit meiner Vergangenheit habe abgeschlossen. Hadern und Grübeln bringt nichts, auch Vorwürfe und Schuldzuweisungen nicht, denn genommen habe letztendlich ich die Drogen. Allerdings erzähle ich nicht jedem von meiner Vergangenheit, denn es gibt heute immer Vorbehalte in der Gesellschaft.
»Auch werde ich nie mehr auf einer Feier oder in einem Lokal unbeschwert ein paar Bier trinken können, von anderen Sachen ganz zu schweigen. Ich muss mir immer meiner Sucht bewusst sein, denn ich bin mein Leben lang gefährdet.«
Wie beeinflusst Ihr ehemaliger Drogenkonsum Sie heute?
Auf verschiedenste Weise, denn eine Folge des Drogenkonsums ist meine Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe einmal die Woche. Eine andere Folge sind Arztbesuche, die nötig wurden. Auch werde ich nie mehr auf einer Feier oder in einem Lokal unbeschwert ein paar Bier trinken können, von anderen Sachen ganz zu schweigen. Ich muss mir immer meiner Sucht bewusst sein, denn ich bin mein Leben lang gefährdet.
Haben Sie noch Kontakt zur Drogenszene?
Nein. Ich bin in Frankfurt aufgewachsen, dort süchtig geworden und dann, als klar war, dass ich dort wenig Chancen habe clean zu werden, hier in den Odenwald gezogen. Es ist zwar richtig, dass man fast überall an Drogen kommt, doch wenn man es hier nicht darauf anlegt, ist die Wahrscheinlichkeit gering, jemandem zu begegnen, der einem etwas anbietet. Zu alten Weggefährten aus dem Drogenmilieu habe ich keinen Bezug mehr. Wenn ich bei meinen wenigen Aufenthalten in Frankfurt jemandem zufällig begegne, wird nach ein paar Worten schnell klar, dass man sich nichts mehr zu sagen hat.
Was raten Sie Jugendlichen, die bereits abhängig sind?
Mein erster Tipp: den Konsum überprüfen und einfach mal mit Konsumieren aussetzen. Gelingt es nicht, eine Woche abstinent zu bleiben, so sollte man Maßnahmen ergreifen. Das kann zunächst übers Internet geschehen. Für den, der ganz anonym bleiben will, steht das Online-Forum der Selbsthilfe des Roten Kreuzes Odenwald zur Verfügung.
Es gibt zudem seit Oktober 2016 beim DRK Odenwald endlich eine Selbsthilfegruppe für junge Drogenabhängige. Darüber hinaus gibt es in Erbach am Bahnhof eine Drogenberatungsstelle.
Ich weiß, das kostet alles Überwindung, aber gemessen an dem, was man dadurch eventuell vermeiden kann, ist das ein Klacks. Ansonsten hilft aber auch immer ein Gespräch mit einer Vertrauensperson weiter, um sein Problem klarer sehen zu können.
Warum möchten Sie mit Schülern über Drogen sprechen?
Es liegt mir einfach am Herz, meine Erfahrungen weiter zu geben. Ich wäre damals als Jugendlicher froh gewesen, hätte mir ein Betroffener von seinen Erfahrungen berichtet. Damals (70er) war man auf Aufklärungsbroschüren der Regierung angewiesen, um seine Neugier zu befriedigen. Doch was da drin stand war genauso vage wie die Aussagen von Eltern und Lehrern. Ein selbst Betroffener ist halt immer der am meisten Glaubwürdige.
Hat die Schule Möglichkeiten, die Schüler vor Drogenkonsum zu bewahren oder hat sie da keine Chance?
Die Schule hat insofern eine Chance, dass sie etwas anbietet, wo man sich bei Problemen aussprechen kann und auch an andere Stellen weitergeleitet werden kann. Andererseits könnte die Schule auch jemanden einladen, der mit den Schülern spricht. Man sollte die Schüler aufklären, zum Beispiel durch Diskussionen, aber vor allem durch Gespräche mit Leuten, die selbst einmal betroffen waren.
»Es bringt einfach nichts, es zu verbieten. […] Man kommt nicht direkt von Haschisch auf Heroin.«
Seitens der Bundesregierung wird ja diskutiert, Haschisch zu legalisieren. Wie stehen Sie dazu?
Es wird nicht viel Einfluss haben, vielleicht ist es sogar noch interessanter, wenn es verboten ist. Heutzutage wird es ja auch schon zum Teil für gesundheitliche Zwecke benutzt, aber über kurz oder lang wird es sowieso freigegeben. Es bringt einfach nichts, es zu verbieten.
Ist Haschisch eine Einstiegsdroge oder muss man es separat behandeln?
Das ist von Person zu Person unterschiedlich. Die meisten fangen mit Alkohol oder Haschisch an. Heroin nimmt man meistens aber tatsächlich erst nach Haschisch. Dazwischen kommen aber auch noch viele Zwischenstufen, wie Speed, Ecstasy oder Crystal. Man kommt nicht direkt von Haschisch auf Heroin oder zumindest habe ich das nur sehr selten erlebt.
Vielen Dank, dass Sie uns so viel erzählen konnten, was mit Sicherheit auch vielen helfen wird.
Zum Thema
In der Gaststätte »Zur Linde« in Fränkisch-Crumbach findet eine Ausstellung der Gemälde von Stefan F. statt. Weitere Infos inklusive Online-Bildergalerie hierzu in unserem Beitrag: Im Kontakt mit dem Motiv